Ein Wecker fürs Leben

Runterscrollen

Ich möchte meinem Wecker huldigen.

Und eine Hommage an einen alten Radiowecker mag auf den ersten Blick vielleicht etwas seltsam erscheinen, aber letztendlich geht es doch um viel mehr als nur dieses Stückchen Elektronik, das sich seit ewigen Zeiten auf meinem Nachtkästchen befindet.

Fakt ist, dass mich dieses Gerät nun schon seit knapp 17 Jahren vollkommen defektfrei durchs Leben begleitet und dafür sorgt, dass ich meiner notorischen Überpünktlichkeit in vollen Zügen und ungehindert frönen kann. Ich habe diesen Wecker länger als ich, zum Beispiel, verheiratet bin und er hat mich nie enttäuscht, genau wie meine Frau. Ich wollte, ich könnte das von jedem sagen.

Der Wecker hat mit mir so einiges erlebt; stets als zumeist stiller Zeuge. Still mit Ausnahmen natürlich, denn gelegentlich muss er ja seiner eigentlichen Aufgabe nachkommen und den ungeliebten Überbringer der Weckzeit geben. Aber ich habe den Boten nie getötet. Ganz im Gegenteil, jeden Abend stelle ich mit sanfter Hand und stets gleichen Bewegungsabläufen die Uhrzeit ein, zu der ich am nächsten Tag aufzustehen habe. Dazu greife ich auf den drei-stelligen Schiebeschalter an der linken Seite, schiebe ihn zweimal nach vorne, um die Weckzeit zu kontrollieren und einmal wieder zurück, um diese Zeit zu aktivieren. Ich kann das im Schlaf.

Es handelt sich dabei um ein Gerät von Philips mit der klingenden Produktbezeichnung AJ3150. Und im Nachhinein tut es mir leid, dass ich ihn nie mit einem Kosenamen bedacht habe. Und ich möchte ihn eigentlich auch nicht „Gerät“ nennen.

Soweit ich das nachvollziehen konnte, wird er nicht mehr hergestellt. Aber das ist im Grunde auch nicht so wichtig. Wirklich bemerkenswert ist eher die, wie es im Businessjargon so schön heißt, überraschende Sustainability: Er ist unkaputtbar. Es gab ein einziges mal in den vergangenen Jahrzehnten einen Vorfall und das war definitiv nicht die Schuld des Weckers. Ein Stromausfall hat ihm jede Funktionsgrundlage entzogen. Dafür konnte er nichts. Ich kam zu spät in die Arbeit und leider war ich am Vorabend auch reichlich illuminiert. Die Geschichte mit dem Stromausfall hat mir aufgrund meiner Bierfahne auch keiner abgekauft. Sie stimmt aber wirklich. Und ich kann mir ja nur selbst einen Vorwurf machen: Der Wecker verfügt zu diesem Zwecke über ein Batteriefach um die Zeiten ohne Strom überdauern zu können. Sorry, lieber Wecker, dass ich Dir diese Batterie nie angedeihen liess!

Der AJ3150 ist wie ein Käfer. Er läuft und läuft und läuft. Dieses absolute Gegenteil von geplanter Obsoleszenz muss in Zeiten wie diesen auch mal gewürdigt werden.

Woher ich diesen Wecker genau habe, verliert sich irgendwo im Dunkel der Vergangenheit. Verbrieft ist nur, dass ich niemals für ihn bezahlt habe. Wie damals üblich habe ich ihn mir geborgelt.

„Borgeln“ bedeuted laut Douglas Adams: „ […] etwas in dem Bewusstsein ausleihen, dass man es nie im Leben freiwillig zurückgeben wird.“ (aus: Adams, Der Tiefere Sinn des Labenz).

Ich hab mir damals viel geborgelt. Ich hatte ja nichts. Ausser meinen allerbesten Freund T. (Name der Redaktion bekannt). Nicht, dass er so viel hatte, aber doch eben um diesen einen Wecker mehr. Dass ich ihm monatlich auch immer einen „Pauschalhunderter“ als Schuldenrückzahlung gegeben habe, um eine über das Monat nicht näher definierte ausgeborgte Summe zurück zu bezahlen, ist eine andere Geschichte. Dass er dabei meistens der Gelackmeierte war, ebenfalls.

Mit T. hab ich damals zusammen gewohnt, drei Jahre lang. Das war so 1996. Und wir sind uns nicht ganz sicher, wo genau der Ursprung des Radioweckers zu suchen ist.

Die Geschichte könnte so verlaufen sein: T. hatte einen ganz anderen Wecker. Das wäre dann der erste, den ich mir geborgelt habe. Dieser sozusagen mythische Ur-Wecker wurde entweder kaputt oder er war für T., der im Nebenzimmer hauste, zu laut, worauf T. auszog, um neue Wecker zu kaufen: zwei Philips AJ3150. Und ab da waren alle zufrieden. Mit Einschränkungen: Ob T. glücklich darüber war, dass ich den Wecker geborgelt habe, entzieht sich meiner Kenntnis. Aber ich könnte ihn fragen, denn T. blieb trotzdem mein Freund und ist nach wie vor genauso in meinem Leben verankert wie dieser Wecker. Und jetzt kommts: Auch T. verfügt immer noch über den gleichen Wecker, er hat ja zwei gekauft. Und auch dieser funktioniert noch einwandfrei.

Ich bin dann einige Male umgezogen, der Wecker natürlich jedes mal mit mir. In meinem ersten alleine bewohnten Zuhause wurde er Zeuge einer einjährigen Liebeskummerphase und teilte mein Leid mit mir. In der zweiten Wohnung bekam er mit, wie ich dann langsam wieder auf die richtige Spur kam und meine damals noch zukünftige Frau (A.) ins Leben trat. In der nächsten Wohnung, als ich dann schon mit A. verheiratet war, hat er weiterhin brav seinen Dienst getan, sehr zum Leidwesen meiner Frau, da ich mir angewohnt habe, morgens immer eine halbe Stunde Radio zu hören, bevor ich tatsächlich aufstand. Beim nächsten Umzug wurde er Zeuge, wie sich die Wohnung langsam mit Kindern füllte. Und auch in der aktuell bewohnten Bleibe verrichtet er nachwievor seinen Dienst. Unbeirrt. Ohne Defekte. Einwandfrei.

Liebe Leute von Philips: Mit diesem Wecker ist euch ein Glanzstück gelungen und ich bin gespannt, wie lange er noch sein Dasein fristet. Wer weiss: Andere Väter vermachen ihren Kindern über Generationen hinweg Taschenuhren, vielleicht findet sich dieser Wecker mal auf dem Nachtkästchen einer meiner Enkel oder Enkelinnen wieder? Oder er wird, neben einem originalverpackten Katalog des Versandhauses Klingel aus dem Jahre 1996, Bestandteil eines äusserst kuriosen Testaments.

Gar nicht anfreunden will ich mich allerdings mit der etwaigen Möglichkeit, dass er kaputt gehen könnte. Das macht mich unrund, nervös fast.

Aber ja: der T. hat ja noch einen. Den könnte ich mir dann borgeln.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert